S. Haumann u.a. (Hrsg.): Perspektiven auf Stoffgeschichte

Cover
Titel
Perspektiven auf Stoffgeschichte. Materialität, Praktiken, Wissen


Herausgeber
Haumann, Sebastian; Roelevink, Eva-Maria; Thorade, Nora; Zumbrägel, Christian
Reihe
Histoire
Anzahl Seiten
258 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Beat Bächi, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich

Der Sammelband ist aus dem DFG-Netzwerk „Stoffgeschichte“ (2019–2023) hervorgegangen, und die Einleitung zu diesen „Perspektiven auf Stoffgeschichte“ legt eine eher unerwartete Fährte aus: Zwar gelte es, so die Herausgeber:innen Sebastian Haumann, Eva-Maria Roelevink, Nora Thorade und Christian Zumbrägel, „auf aktuelle ökologische und gesellschaftliche Herausforderungen“ zu reagieren (Stichwort Anthropozän) und „neuere theoretische Debatten um ‚Materialität‘“ aufzugreifen (S. 7). Der Fokus wird jedoch auf die Geschichtswissenschaft selbst gelegt. Diese wird von den Herausgeber:innen als „zunehmend segregiert“ gesehen (ebd.). Die im Band vertretenen Fachkulturen respektive Disziplinen – die Umwelt-, Technik-, Wirtschafts-, Medizin-, Wissens- und Globalgeschichte – sollten deshalb mit Hilfe der Stoffgeschichte aus ihrer Verinselung befreit und in einen fruchtbaren Dialog gebracht werden (S. 23). Dies erscheine angesichts einer immer weitergehenden Spezialisierung dringend nötig. Denn dass die segregierten Fachrichtungen sich gleichsam im eigenen „Container“ aufhielten, habe selbst innerhalb der Geschichtswissenschaft „zu einem Verlust von Dialog- und Diskussionsfähigkeit geführt“. Dem seien „Vielfalt und Variantenreichtum“ entgegenzusetzen. Deshalb solle mit der Stoffgeschichte auch keinem „neuen Über- und Leitthema oder gar einem weiteren Paradigma das Wort geredet werden“ (S. 23). Vielmehr gelte es, der Geschichtswissenschaft neue „transversale Impulse“ zu verleihen (S. 7).

Aber wie genau sollen der Geschichtswissenschaft durch die Stoffgeschichte die dringendst benötigten übergreifenden Anstöße gegeben werden? Oder anders gefragt: Was verstehen die Autor:innen unter „Stoffgeschichte“? Dazu heißt es in der Einleitung, man spreche ganz bewusst von „Stoffgeschichte“ und nicht von „Stoffgeschichten“ im Plural. Denn dem von Stefan Böschen, Armin Reller und Jens Soentgen 2004 eingeführten Konzept der Stoffgeschichten1 gehe es „vorrangig darum, Narrative zu entwickeln, die am Beispiel ausgewählter Stoffe natur- und geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse zusammenbringen“. Der von den Autor:innen des Sammelbandes im Singular verwendete Begriff „Stoffgeschichte“ beanspruche demgegenüber „eine stärker problemanalytische und geschichtswissenschaftliche Ausrichtung“. „Stoff“ solle dabei nicht „als Kategorie der historischen Forschung“ definiert, sondern vielmehr als „Suchbegriff“ verwendet werden (S. 9).

Im ersten Beitrag fragt Jens Soentgen zunächst aus chemiehistorischer Perspektive ausführlich, was denn nun Stoffe genau sind. Dabei stellt er auch die Frage: „Was sind Stoffgeschichten?“ (S. 35) Am Beispiel indigenen Wissens über Kautschuk zeigt er, was man darüber in europäischen Kautschukhistorien erfährt. Die postkoloniale Stoßrichtung des zweiten Teils des Aufsatzes führt die Stoffgeschichte dann aus den Werkhallen und Laboren „zurück bis in die Wälder und Dörfer“ (S. 38). Angesichts der von Soentgen konstatierten „Gefahr“, dass eine „eurozentrische Wissenschaftsgeschichte, die sich lediglich auf wissenschaftliches Wissen konzentriert, […] koloniale Mentalitäten und Sichtweisen“ verlängere, ist dies sicher ein äußerst wichtiges Anliegen. Denn die „Chemie unter freiem Himmel“, „eine Chemie ohne Reagenzglas und Erlenmeyerkolben“, ist in ihren Praktiken und Narrationen tatsächlich „ein weitgehend unbekanntes Feld“ (S. 58).2 Um die indigenen Techniken besser zu verstehen, führte Soentgen Interviews mit einem Kautschukchemiker und machte teilnehmende Beobachtung in einem Kautschuklabor. Dennoch erscheinen die Welten des indigenen und des wissenschaftlichen Wissens einigermaßen dichotomisch und durch einen ziemlich tiefen Graben getrennt. Ob zur Überwindung dieses Grabens ein eng an Stoffe gebundener Wissensbegriff besonders hilfreich ist, müsste weiter diskutiert werden.

Gewissermaßen als Gegenentwurf zu Soentgens Stoffgeschichten kann Stefanie Gängers Beitrag gelesen werden. Anhand der Chinarinde um 1800 reflektiert Gänger über die „Grenzen der (Stoff-)Geschichtsschreibung“. Ihre Ausführungen sind geleitet von der These, dass Schriftquellen weniger Rückschlüsse auf einen ganz bestimmten „Stoff“ erlauben, sondern bloß über eine historisch fluide Stoffkategorie (S. 62). Gänger zeigt, dass die Gleichsetzung von Chinarinde mit Chinin ein aus mehreren Gründen schwer haltbarer Anachronismus sei (S. 72). Insbesondere sei unklar, ob es sich bei den im 18. Jahrhundert verabreichten Rinden um Chinarinden „nach heutigem botanischem und chemischem Verständnis gehandelt“ habe. Hinzu komme „die offenkundige biologische Historizität der Pflanze an sich aufgrund selektiver Züchtung, die jedwede Gleichsetzung mit in der Moderne als Chinarinden bezeichneten Pflanzen zumindest in Zweifel zieht“. Angesichts der offenkundigen „Fragilität, Wandelbarkeit und Flüchtigkeit“ (S. 73) gelangt Gänger zu dem Schluss, dass sich auf der Grundlage von Schriftquellen und materiellen Überresten „für das 18. und frühe 19. Jahrhundert die Geschichte einer wandelbaren historischen Stoffkategorie schreiben“ lasse, „nicht aber die [Geschichte] eines durch bestimmte, die Zeit überdauernde physikalische und chemische Eigenschaften gekennzeichneten ‚Stoffs‘“ (S. 75). Damit dekonstruiert sie nicht nur die Stoffgeschichten, sondern auch die Stoffgeschichte.

In den weiteren Beiträgen des Sammelbandes verleiht Barbara Orland der Stoffgeschichte eine bereichernde longue durée-Perspektive, während Heiko Stoff in seinem Plädoyer für einen begriffsgeschichtlichen Ansatz als Bedingung einer praxeologischen Stoffgeschichte humorvoll beschreibt, wie nicht ausgerechnet er zur Stoffgeschichte, sondern die Stoffgeschichte zu ihm gekommen sei. Und während Sebastian Haumann in seinem ebenso lesenswerten Aufsatz der (kontrafaktischen) Frage nachgeht, ob es ohne Kalkstein keine Industrialisierung gegeben hätte, befassen sich Ronja Kieffer und Eva-Maria Roelevink mit der „ökonomischen ‚Codierung‘ von Kohle und Kali“, bevor Helge Wendt das „Kohlewissen als transversale Perspektive“ (S. 249) erörtert. Christian Zumbrägel stellt zwar auch einen bestimmten Stoff ins Zentrum seiner Überlegungen – Helium –, folgt aber stärker als die anderen Beiträge dem „Stoffstrom“ und dem „Stoffwechsel“. Um die Materialflüsse analytisch verorten zu können, schlägt er eine „Verknüpfung von Stoff- und Infrastrukturgeschichte“ vor (so die Herausgeber:innen, S. 17). Im Winter wurde etwa in den USA der 1960er-Jahre vorrangig Erdgas benötigt (zum Heizen), im Sommer eher Helium (für Luftschiffe der US-Navy; S. 198). Durch die Offenlegung der Zusammenhänge von technischen Systemen und ihrer soziomateriellen Umwelt gelingt es Zumbrägel, „die Effekte stofflicher Eigenaktivitäten während ihrer Wanderungen sichtbar zu machen“ (so noch einmal die Herausgeber:innen, S. 17).

Neben „Stoff“ ist „transversal“ der Kernbegriff des Bandes. Was jedoch eine „transversale Perspektive“ genau ist oder sein soll, bleibt nicht nur im Vagen, es scheint vielmehr, als ob die einzelnen Autor:innen davon einigermaßen unterschiedliche Auffassungen hätten. Diese Bedeutungsvielfalt bleibt implizit, da nirgends explizit darüber debattiert wird, wofür „transversal“ stehen soll. Als kleinster gemeinsamer Nenner scheint eine geschichtswissenschaftsinterne Interdisziplinarität übrig zu bleiben. Es hätte sich angeboten, diesen schillernden Begriff beispielsweise in einem Resümee nochmals aufzugreifen. Dort hätte nach der abwechslungsreichen Reise durch das Universum der Stoffe auch die Frage nach der Differenz von Stoffgeschichte und Stoffgeschichten erneut aufgenommen werden können. Dadurch hätte sich vielleicht noch klarer herauskristallisiert, was Stoffe für die postulierte Einheit des Faches Geschichtswissenschaft so interessant macht. Deshalb darf man gespannt sein, was von dem aus dem DFG-Netzwerk inzwischen hervorgegangenen interdisziplinären Forschungsnetzwerk Stoffgeschichte weiter zu hören, zu sehen und zu lesen sein wird.3

Anmerkungen:
1 Stefan Böschen / Armin Reller / Jens Soentgen, Stoffgeschichten. Eine neue Perspektive für transdisziplinäre Umweltforschung, in: GAIA 13 (2004), Heft 1, S. 19–25, https://opus.bibliothek.uni-augsburg.de/opus4/frontdoor/deliver/index/docId/35206/file/s5.pdf (15.02.2024).
2 Grundlegend hierzu Gabriela Soto Laveaga, Jungle Laboratories. Mexican Peasants, National Projects, and the Making of the Pill, Durham 2009.
3 Siehe http://stoffgeschichte.org (15.02.2024)